Die Formulation

Eine grenzenlose Äußerung

Die Ausdruckssemiologie: ein neuer Blick auf die Spur...

Die Ausdruckssemiologie ist ein neuer Forschungsbereich, der sich mit bisher unbeachteten Vorgängen befaßt.

Es handelt sich dabei um eine nie zuvor angewandte Betrachtungsweise der Spur, die jegliche Deutung ausschließt. Nicht der Inhalt soll erkannt werden – nicht die Motivation, die zur Äußerung veranlaßt -, sondern die Art und Weise ihres Geschehens.

Eine nicht der Vermittlung dienliche Spur wurde zuvor nirgends gefördert. Sie konnte auch erst am spurfreundlichen Malort entstehen und untersucht werden. Sie kann nicht zufällig geschehen, sondern bei einer fortdauernden Praxis und in einer anregenden Atmosphäre.

Dazu sind folgende Bedingungen unentbehrlich:

ein vor Druck und Beeinflussung schützender Raum.
die Gegenwart anderer; nicht als Zuschauer, sondern als Spielgefährten deren zustimmende Einstellung zufolge hat, daß die Äußerung zur Normalität und zur Nicht-Kommunikation wird.
die Gegenwart des Dienenden, der weder als Vorbild noch als Empfänger der Äußerung erscheint.

Diese Grundbedingungen vereint der Malort.

Die Formulation bedarf keines fremden Beistandes. Sie setzt keine besonderen Veranlagung voraus. So gibt es keine Formulationsbegabte oder Unfähige, keine durch Lebenserfahrung und Umfeld Begünstigte oder Benachteiligte.

Merkmale der Formulation...

Die Formulation unterscheidet sich von der Kunst dadurch, daß sie keine vermittelnde Rolle spielt. Dies hat zur Folge, daß der Ausübende seine Äußerung mit keiner Erwartung verbindet und deshalb eine ungeahnte Unabhängigkeit erfährt.

Die Formulation entsteht schon sehr früh im Leben und folgt in ihrer Entwicklung einem vorbestimmten Ablauf. Sie spielt sich ab mit ihr eigenen Bestandteilen: mit Gebilden, die sie mit keinem anderen Bereiche teilt.

Sie schöpft endlos aus den verborgenen Aufspeicherungen in der organischen Erinnerung und ist deren einziges Äußerungsmittel. Als solches ist sie wertvoll und unersetzlich.

Die Formulation erleben...

Das Ausüben der Formulation läßt sich als ein Spiel bezeichnen, das weder dem Bereich des künstlerischen Schaffens noch demjenigen der therapeutischen Handhabungen angehört.

Und doch erzeugt es Wohlbefinden und eine merkliche Sicherheit im Leben.

In diesem Spiel, das jedem leicht fällt, dem Großen wie dem Kleinen, entwickeln sich auch ein außergewöhnliches Können und das Bewußtsein ungeahnter Fähigkeiten.

Die Praxis der Formulation befreit von der beigebrachten Abhängigkeit von Vorbildern und von Begutachtung.

Derjenige, der sich durch dieses Spiel entfaltet, gebraucht keine Gewalt als Bestätigung, keine Drogen als Trost und Linderung. Die Tat des Formulierens ist lebenswichtig. Im Rahmen des Malortes fördert sie gleichzeitig das Selbstbewußtsein und die Beziehung zu anderen, in einem harmonischen, wettkampflosen, nirgendwo erreichten Gleichgewicht.

In Wüste und Urwald

Begegnung mit einem Universalgefüge

Schon sehr früh – das heißt, etwa 1950 – war mir aufgefallen, daß der spontanen Äußerung, die der Malort ermöglicht, eine Gesetzmäßigkeit zu Grunde liegt.

In den unzähligen Bildern, deren Entstehen ich verfolgte, wurde ich auf Wiederholungen aufmerksam, auf die Tatsache, daß alle Kinder die gleichen Dinge darstellen (Haus, Baum, Mensch, Tier, Blume, Sonne…) Ich stellte mir die Frage, ob die Spur aller im Malort Tätigen einem kulturbestimmten Allgemeingut angehöre.

Deshalb war es naheliegend, sich zu fragen, ob Kinder, deren Verhalten von ganz verschiedenen Lebensbedingungen bestimmt ist, wohl Ähnliches oder Anderes darstellen, oder die gleichen Dinge auf eine andere Weise – eine Weise, die von ihrer besonderen Kultur geprägt ist.

Auf diese Fragestellung konnte mir allerdings niemand eine gültige Antwort erteilen. So unternahm ich Reisen in verschiedene Gegenden. Zu Bevölkerungen, die von der Schule unberührt, in einer dem natürlichen Rahmen angepassten Lebensweise verblieben waren. Dies erwies sich als besonders schwierig, da das internationale Alphabetisierungsprogramm in den Jahren zwischen 1967 und 1972 schon die abgelegensten Landstreifen erfaßt hatte.

Ich wählte Stämme aus, die sich von einander durch typische Merkmale unterschieden, und die besonders von der Lebensweise in der Großstadt entfernt waren: Nomaden in Mauretanien und Afghanistan, Urwaldbevölkerungen in Peru und in Neuguinea, Buschbewohner in Niger und Äthiopien, im Hochgebirge Lebende, in den Anden und in Guatemala.

Die Antwort auf die gestellte Frage übertraf weitgehend meine anfängliche Vorstellung: Es zeigte sich, daß etwas Ursprüngliches, das den verborgensten Tiefen des Wesens entstammt und das der Darstellung von Dingen vorangeht, allen Menschen gemein ist.

Die von Nomaden gebildeten Figuren sind die genau gleichen, wie die des Urwaldbewohners und wie diejenigen des Stadtkindes, weil diese Figuren vom genetischen Programm bestimmt sind, das Rasse, Klima, Kultur (jenseits aller äußerlichen, nachgeburtlichen Einflüsse) unbeachtend allen Menschen gemein ist.

Diese Universalität der Formulation geht unwiderlegbar aus den Tausenden von Blättern hervor, die ich von meinen Reisen mitbrachte.

Das Besondere an diesen Dokumenten liegt in der Art, wie sie entstanden. Ethnologen haben auch primitive Menschen zeichnen lassen. Jedoch unter Bedingungen, die der üblichen belehrenden Behandlung von Kindern ähnelt, indem sie Themen vorschlugen und das Dargestellte kommentierten oder vom Zeichenenden kommentieren ließen.

Ich behandelte die Menschen im Urwald und in der Wüste mit derselben respektvollen Zurückhaltung, wie die Malenden im Malort.

Arno Stern

Ausdruckssemiologie

Eine neue Wissenschaft

Die wissenschaftlichen Arbeiten finden im I.R.S.E.A.S. (Forschungsinstitut für Ausdruckssemiologie Arno Stern) statt. Ihre Grundlage bildet vorwiegend der Malort – wo die zu untersuchende Äußerung geschieht – und das Archiv, in dem seit 50 Jahren sämtliche im Malort entstandenen Bild-Blätter aufbewahrt worden sind – ungesteuerte und von echten Impulsen hervorgerufene Spuren. Durch diese Herkunft ist die Echtheit der Dokumente gewährleistet.

Zwei Besonderheiten kennzeichnen diese Sammlung:

Sie enthält lückenlose Entwicklungsabläufe vom Kindesalter bis zum Erwachsensein – entgegen der verbreiteten Behauptung, daß die Ausdrucksfähigkeit mit dem Größerwerden versiege.

Sie bewahrt die ersten Spuren von Urwald- und Wüstenbewohnern: Tausende von Blättern, die Arno Stern von seinen Weltreisen mitbrachte – keine vorgefundenen Werke von unausgebildeten Kunstschaffenden, sondern eine Äußerung, die unter den gleichen spurfreundlichen Bedingungen wie im Malort entstand: vorbildfrei, kommentarlos und erwartungsfrei.

Die absolute Ähnlichkeit der Gebilde (gleichwohl ob von Menschen aus dem Urwald, der Wüste, dem Busch, dem Hochgebirge oder der Großstadt stammend) bestätigt, daß die Formulation, vom genetischen Programm bestimmt, in der organischen Erinnerung wurzelt.

I.R.S.E.A.S.

Institut für die Erforschung der Ausdruckssemiologie Arno Stern

Forschung, Ausbildung, Information

Die Formulation mußte in ihrer Eigenart erkannt und abgegrenzt werden. Ihre Beschaffenheit, ihr Entstehen, ihre Bestandteile und Abläufe sind heute bekannt, ebenso die Folgen der ermöglichten Äußerung.

Der Weiterführung der Forschungsarbeiten sind verschiedene Ziele gesetzt. So soll z. B. eine Zusammenarbeit mit Biologen, Anthropologen, Genetikern, Psychologen, Neurophysiologen, Prähistorikern das Arbeitsfeld erweitern.

Auch ist es wichtig, die Ergebnisse der Forschungsarbeiten mit geeigneten Mitteln bekannt zu machen, was besonders im pädagogischen Bereich zu neuen Impulsen veranlaßt.

Die Formulation ist jedem leicht zugänglich. Für Eltern ist eine annähernde Kenntnis ihrer Eigenart besonders wichtig, weil ihnen dadurch die Äußerung ihrer Kinder auf eine neue und interessante Weise erscheint. Den Medien kommt es zu, die Information – einen zweifellos anschaulichen Mediengegenstand – zu verbreiten.

„…Die Begegnung mit der Formulation ist ein erfreuliches und folgenschweres Ereignis und soll möglichst vielen Menschen zu einer neuen Sichtweite verhelfen.“

Arno Stern