Der Malort

der Malort, das Malspiel und die Formulation

Der Malort ist ein fremdes Land – ein Traumland.

Aus seinen Wänden strahlt der farbige Widerhall von vielem Erlebten in den Raum. Endlos folgte auf diesen Wänden ein Blatt dem andern: spurenreich angefüllte durch unberührt weiße ersetzt. Welten entstanden in ihnen – grenzenlos, dem Sehnen nach Unendlichkeit angemessen, das sich nur in diesem Geborgensein ausleben kann.

Ein Ort der Verschwiegenheit und auch der Strenge. Auch wer es nie erprobte, erfährt hier, daß der größten Handlungsfreiheit eine ernste Struktur zu Grunde liegt. Und er unterscheidet zwischen Freiheit und Zügellosigkeit.

Viele Begriffe werden sinnvoll an diesem Orte. So auch der Abgrund zwischen dem zufällig Geschehenden und dem unbeabsichtigt Geäußerten; zwischen dem Möglichen und dem Notwendigen; zwischen lärmend Künstlichem und schweigsam Natürlichem.

“Eines Tages ist mir aufgefallen, daß im Malort nicht Ähnliches wie zu Hause, wie in der Schule oder in der Psychologenpraxis entsteht. Anfangs glaubte ich, es läge an der außergewöhnlichen Qualität der Werkzeuge, die ich den Kindern gab, während sie sonstwo mühsam ein bißchen verwässerte Farbe dem Malkasten abzugewinnen versuchten. Aber daran lag es nicht in erster Linie, sondern an der grundlegend verschiedenen Einstellung zum Malenden. Deshalb entstand hier eine nie zuvor geschehene Äußerung.”

Wer zu dieser Äußerung kommt, sich von allen Vorbildern und Vorstellungen befreit, hemmungslos die natürliche Spur entstehen läßt, kehrt zu seinem wahren Wesen zurück.

Das Formulationsspiel im Malort ist keine Therapie sondern eben Therapie-vorbeugend, weil es Fähigkeiten fördert, die zur Entfaltung und Stärkung der Persönlichkeit führen.

Und auch wer nur von der Formulation erfährt, kann nicht mehr, wie so viele es tun (wie er das wohl selbst zuvor getan hat), Kinderzeichnungen verbessern, beurteilen, kommentieren, deuten, wie Werke aufnehmen oder gar ausstellen, sondern wird sie als das anerkennen, was allein sie auszeichnet: als ein vom Kind erlebtes Spiel, das keinen Fremden einbezieht.

Wer dem Kind und seiner Spur mit dem Blick des Kundigen begegnet, hat eine fördernde Einstellung gefunden. Und dieser Blick hat ein neues Verhältnis – ein respektvolles Verhalten – zur Folge. Wenn viele Menschen dazu gelangen, wird sich manches in ihren Beziehungen ändern.

Die dienende Rolle

Die dienende Rolle im Malspiel

Die dienende Einstellung unterscheidet sich grundsätzlich von einer belehrenden Beziehung zum Kind: Der Dienende im Malort vermittelt kein Wissen. Aber die gründliche Kenntnis des Formulationsablaufes bestimmt seine Haltung: Das Wissen um das Allgemeingültige schützt vor der Versuchung einer Anteilnahme am Persönlichen, vor der Lust, die entstehende Spur zu beurteilen oder gar zu deuten. Es ist zur Ausübung dieses Berufes unentbehrlich; nicht aber eine eigene Erfahrung im Umgang mit Pinsel und Farbe. Hier entsteht ja nicht ein Verhältnis wie zwischen dem vorbildlichen Meister und dem unerfahrenen Lehrling.

Dienen heißt, in jedem Moment sich in die Lage aller versetzen, die hier spielen; dafür sorgen, daß sie durch nichts vom Wesentlichen abgelenkt werden; ihnen jede unnötige Mühe ersparen; sie vor jeder materiellen Besorgnis entlasten.

Das ungewöhnliche Bedientwerden beglückt jeden, es führt keineswegs zur Abhängigkeit. Es hat vielmehr zur Folge, daß das Geschehen im Malort zu einem wichtigen, schätzenswerten Ereignis wird.

Es braucht zur Ausübung dieser Rolle eine Wachsamkeit, die mit der eines Rennfahrers zu vergleichen ist. Wer diese Rolle spielen möchte, muß ein wahres berufliches Können erwerben. Ungefähr kann man sie nicht spielen. Die kleinste Vernachlässigung ist folgenschwer im Ablauf der Malstunde.

“Ich habe mir zur Aufgabe gemacht, das, was ich erfahren und erprobt habe, möglichst vielen Leuten beizubringen, denn ich weiß, wie wichtig das Geschehen im Malort ist. Es soll vielen Leuten vergönnt sein. Dazu müssen viele Orte eingerichtet werden von verantwortungsvollen Malspiel-Dienenden. Dieses Dienen ist – zum Unterschied von so vielen Beschäftigungen in unserer Gesellschaft – eine beglückende Tätigkeit, die nie zur Routine erschlafft.”

Arno Stern