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In der einschränkenden Covid19-Zeit empfange ich keine Besucher im Malort. Üblicherweise geschieht es eigentlich allwöchentlich; und ich beantworte viele Fragen, die dem anfänglichen Beeindrucktsein folgen.

Es ist staunenerzeugend, zwischen diesen umhüllenden Wänden zu stehen; und die Besucher schweigen – bis jemand die Frage äußert: „Waren mehrere Malende am Verzieren der Wände beteiligt?“ Ich lächle und erkläre, dass es keine Bemalung ist, sondern dass es Spuren sind von den über den Rand getriebenen Pinselstrichen, und dass sie im Laufe der Monate aneinander und übereinander entstanden sind. Anfangs waren es glatte Packpapier-Streifen. Ihre Wirkung auf den im Inneren des Raumes Stehenden ist unausbleiblich und trägt zu der Eigenart des Malortes bei. Da ist es verständlich, dass diese unerprobte Stimmung zu einem unerprobten Erleben anregt „Wie viele Beteiligte spielen hier?“ fragt jemand und ist erstaunt, dass sie so zahlreich in diesem Raum sind. Dass er sich gewissermaßen ausdehnt ist nicht erstaunlich, denn seine Grenzen sind von einander entfernter als es in dem farbigen Wimmeln scheint; und jedes aufgehängte weiße Blatt ist wie ein Fenster, das sich mit dem aus der Person Ausdringenden anfüllt. Alles dem Malort Angehörende ist erstaunlich, unerprobt, unvermutet. Hier kommt etwas vor, das die malende Person nirgendwo erprobt hat. Und doch ist es nichts Fremdes, nichts Überraschendes. Um auf den Grund der Begebenheit zu kommen muss ich manch Unerwartetes erläutern.

Ich stelle dann meistenfalls die Frage: „Haben Sie darüber nachgedacht, welche die ältesten in Ihrem Gedächtnis eingetragenen Begebenheiten sind?“ Die Antworten sind allgemein: „Etwa als ich 4-Jahre alt war!“ Eine andere Person bemüht sich, das zu ermitteln, an das sie nie zuvor dachte, und sagt „Vielleicht war ich ein Bisschen jünger, etwa 3½ !“. Ich frage dann: „Und das Vorangegangene?“ Und wir stellen fest, dass davon keine Spur gespeichert worden ist. Ich bestätige, dass eine unüberschreitbare Grenze besteht, und dass diese das zweite Lebensjahr bezeichnet. Und ich mache darauf aufmerksam, dass uns eigentlich unser Anfang entschwunden ist. Wir scheinen Menschen ohne bekannten Lebensanfang zu sein. Ist diese Tatsache bedauerlich? Ich würde sagen, dass dieser verhülle Lebensanfang einem Daseinsbewusstsein entspricht. Und ich komme somit zu dem was ich als Trostspender zu verkünden habe: Wir besitzen, ohne es erfahren zu haben, neben dem der Besinnung offenen Gedächtnisses eine im Allgemeinen unbekannte Erinnerung. Ich unterscheide zwischen dem Gedächtnis (das ein Nachdenken ermöglicht), und einer Erinnerung, die uns in das verborgene Innere unseres Wesens leitet – die von mir genannte Organische Erinnerung. Darin ist gespeichert, was unserem Erforschen entzogen ist, und dessen Ursprung mit unserer Ursprünglichkeit zusammenhängt. Nicht nur diese erstrebte Speicherung allein besitzen wir, sondern auch deren eigenes Äußerungsmittel. Und dieses kann angeregt werden und das Unerprobte beleben. Meine Zuhörer sind erstaunt: „Warum weiß man davon nichts?“ Ich weiß auch unter welchen außergewöhnlichen Bedingungen diese unerprobte Äußerung geschehen kann. Und wenn sie geweckt ist, bedeutet das ein unvergleichliches Erfülltsein. Es ist wie die Rückkehr in das Paradies, aus dem geschrieben ist, dass der Mensch als Strafe verdrängt worden sei.

Jeder – das kleines Kind, oder die großgewordene Person – besitzt verborgen, oder gar verschüttet in der Tiefe seines Wesens die Veranlagung zu dieser Äußerung. Sie kann nur in ihrer Eigenart und Unbelastetheit geschehen, wenn in der Person der Ausgleich zwischen dem Vernünftigsein und der Spontaneität hergestellt ist. Das ist die Eigenschaft das Malspiels und das dabei Belebte heißt die Formulation.

Damit viele Menschen dieses Erfülltsein erleben können, müssen viele Menschen zu der dienenden Rolle ausgebildet werden, die den Malort vermehren. Das trägt zur Veränderung der Gesellschaft bei. Und es ist auch meine Aufgabe, viele Menschen auf dem Weg zu diesen Kenntnissen zu begleiten.

 

Arno Stern, 30. September 2020

© Institut Arno Stern