Skip to main content

Die zeitlich entferntesten Spuren, die Menschen erzeugten, stammen aus der Steinzeit. Sie stellen dar, was unsere Vorfahren beschäftigt hat, wilde oder gesellige Tiere, Menschen und ihnen dienliche Gegenstände, wesentliche Handlungen. Das Dargestellte wird zu einer verbleibenden Begebenheit, die von Betrachtenden aufgenommen werden kann. Die Möglichkeit der Vermittlung ist der Zweck der Spur. Und diese Rolle blieb weiterhin bestehen. Die erzeugte Spur spielte ganz selbstverständlich diese Rolle des Zeigens, des Vermittelns, einer für den Empfänger bestimmten Botschaft.

Jeder Betrachter eines Kunstwerkes bezieht es auf sich, genießt es oder lehnt es ab. Und weil allgemein geglaubt ist, die vom Kind erzeugte Spur sei ebenfalls ein mehr oder weniger gelungenes Kunstwerk, wird sie dementsprechend verkannt. Mit anderen Worten: Es wird behauptet, ein Kind sei noch nicht fähig, einen Menschen so naturgetreu wie Rafael oder Leonardo da Vinci zu gestalten, deshalb müssten beflissene und begabte Belehrer sich bemühen, seine Darstellungsweise zu verbessern. Auf diesem Irrtum beruht die Kunsterziehung und im Allgemeinen die Betrachtungsweise der kindlichen Äußerung.

Das als mangelhaft Aufgefasste ist nicht ein misslungenes Kunstwerk, denn sonst wäre ein Portrait von Picasso ebenfalls verwerflich neben der Mona Lisa. Das also ist keine brauchbare Erklärung.

Dass die Äußerung des Kindes nicht dem Bereiche der Kunst angehört, ist eine folgenschwere Tatsache. Und dies erscheint in ihrer überzeugenden Wirklichkeit, wenn man zur Kenntnis nimmt, dass neben der vermittelnden Spur eine weitere, eine andersveranlagte Spur besteht.

 

Die andere Spur

Wer weiß von dieser unüblichen Äußerung? Ich muss als erstes schildern, wie ich ihr begegnet bin: nicht als Folge einer Überlegung, nicht plötzlich, als eine blitzartige Eingabe, sondern als Folge einer schrittweisen Annäherung. Ich war in einem Heim für Kriegswaisen angestellt und beauftragt, ihnen die Grundlagen des künstlerischen Könnens beizubringen. Das tat ich jedoch nicht. Das Erste, das mir in meiner begeisternden Begegnung mit diesen Kindern auffiel, war dass ich ihnen die Mittel beschaffen musste, damit sie das gewährte Spiel in seinem ganzen Ausmaß genießen können. Das bedeutete, dass der Spielraum eines jeden unbegrenzt neben dem anderen sich ausdehnte. Wie war es durchführbar? Nicht, wie anfangs, auf der Tischplatte. Ich befestigte die Blätter an den Wänden. Sie umgaben den gesamten kleinen Raum, manche Bilder wuchsen bis zur Decke. Ich wohnte dem Wachstum bei, war begeistert; Trat in eine unbetretene Welt ein. Und als ich alsdann in der Stadt den ersten Malort einrichtete, kamen 150 Kinder jede Woche: Und es geschah das gleiche Wunder, das mich unwiderstehlich zum Nachdenken veranlasste. Denn es war erstmalig, nirgendwo in dieser Fülle geschehen.

An anderen Orten zeichneten und malten auch Kinder. Aber was zwischen diesen Wänden zur Äußerung kam, war einmalig.

Ich dachte darüber nach: was ist es, was diese Eigenart bezweckt? Es war offensichtlich, dass die Geborgenheit des unüblichen Raumes die Eigenart der Äußerung prägte: Hier ist das Kind dem Alltag entnommen, einer unerprobten Notwendigkeit ergeben, die im geschützten Raum zur Üblichkeit geworden ist. Und es sind keine beigebrachten Fähigkeiten. Es ist das Beleben einer vernachlässigten Veranlagung.

Eine kaum berücksichtigte angeborene Fähigkeit wird zur Gewohnheit belebt. Anfangs bezog ich die Besonderheit der Verfassung im Malort bloß auf den Schutz gegen momentane Eindrücke. Die Wände sind zweifellos ein Schutz gegen jegliches Zudringen. Aber der Schutz führt viel weiter als an das gegenwärtige Zudringen. Es sei im Folgenden erläutert.

In der abendländischen Kultur spielt die Vernunft eine bevorzugte Rolle. Sie ist ein unbezweifeltes Ziel der Erziehung, was auf Kosten einer anderen menschlichen Veranlagung geschieht: die Spontaneität ist eine ebenso natürliche Gabe. Ihre Äußerung überschreitet gelegentlich das der Vernunft oder dem Verstand Entsprossene. Das führt – oder verführt – zur Fehlhandlung. Die Benennung allein zeigt, dass die Hingabe an eine der Vernunft entsprungene Neigung als verwerflich betrachtet wird.

Die Spontaneität spielt eine unersetzliche Rolle und äußert sich durch Ausdrucks-Spur.

Dass ich das erkannt habe, ist wohl das Wesentlichste meines gesamten Wirkens. Neben allen von mir erarbeiteten Konzepten und Wahrnehmungen sei die Bekanntmachung der Ausdrucks-Spur die verdiensthafteste.

Es ist mein dringendstes Verlangen, dies zu verbreiten. Dessen Folgen, so scheint mir, sind entscheidend für das Gedeihen einer erstrebenswerten Gesellschaft, und führen in die entfernteste Vergangenheit der Person, in die Begebenheiten ihres eigenen Anfangs. Zu diesem führt kein Nachdenken. Unser Gedächtnis ist zeitlich begrenzt. Versuchen Sie, es nachzuvollziehen: Ihre frühesten im Gedächtnis aufbewahrten Eintragungen stammen aus dem 2. oder 3. Lebensjahr. Das Vorangegangene, so Wesentliche: die vorgeburtlichen Monate, die Geburt, das folgende oft gefahrvolle Einleben in die sachliche Welt… davon erfahren wir bestenfalls von Nahestehenden, die es uns später lückenhaft erzählt haben. Es ist uns aber entfremdet.

Jedoch besitzen wir neben dem Gedächtnis eine Erinnerung, eine unersetzliche Möglichkeit diese Organische Erinnerung zu aktivieren und den verloren geglaubten Anfang wieder zu beleben.

Das ist es, was ich als Erfüllung bezeichne, was man einem jeden Menschen wünscht, und was – wenn es alle Menschen betrifft – die allgemeine Lebensweise, die kommende, erstrebte Gesellschaft sein wird.